Was wir von der Natur lernen können
Sie hatte Zeit. Viel Zeit. Die Lotuspflanze konnte im Laufe der Evolution einen genialen Schutzmechanismus entwickeln. Die Oberfläche ihrer Blätter läßt Regentropfen und damit auch Schmutz einfach abperlen. Dieser Lotuseffekt ist sicherlich eines der prominentesten Beispiele aus der Bionik – der Verbindung aus Biologie und Technik. Denn Wissenschaftler erkannten nicht nur den Schutzmechanismus der Pflanze – sie fragten sich auch, wie man diesen Effekt für uns Menschen nutzbar machen könnte. Heute findet sich der Lotuseffekt in zahlreichen Anwendungen unseres täglichen Lebens: als wasserabweisende Fassadenfarbe, als Lackschutz für Autos oder als glasierte Dachziegel.
Die Natur als Lehrmeister
Bereits Leonardo da Vinci erkannte vor über 500 Jahren, dass die Natur nicht nur schön, sondern auch genial ist. Er muss es wissen – das Universalgenie skizzierte als erster Flugmaschinen nach dem Vorbild des Vogelflugs. Da Vinci gilt heute als historischer Vater der Bionik. Erst Jahrhunderte später baute Otto Lilienthal, Erfinder und Luftfahrtpionier, erste funktionierende Flugapparate – er war inspiriert vom Gleitflug der Störche.
Otto Lilienthal
Anwendungen im Alltag
Gerade innerhalb der letzten Jahrzehnte nahm aufgrund neuer technischer Möglichkeiten das Tempo der auf Bionik beruhenden Erfindungen sprunghaft zu. Es entstanden zahlreiche verblüffende neue Produkte und Anwendungen, die unser modernes Leben nicht nur einfacher, sondern auch effizienter machen. Davon profitiert zum Beispiel der Sport – genauer gesagt das Schwimmen. Die Haut des Hais war Vorbild für moderne Schwimmanzüge, die noch schneller durchs Wasser gleiten, weil ihre Oberfläche die Reibung minimiert. Natürliche Oberflächen sind generell ein zentrales Thema in der Bionik: Die Strukturen von Fauna und Flora werden unter dem Mikroskop bis zur Nanoebene analysiert, um deren Geheimnisse zu entschlüsseln.
Ein weiteres erstaunliches Ergebnis ist der Klettverschluss. Er ist dem Prinzip der Klettpflanze nachempfunden, deren Blüten an vorbeistreifenden Tieren oder Menschen hängen bleiben. Wissenschaftler ahmten die Funktion der Pflanze nach: mit winzig kleinen Widerhaken und Schlaufen, die sich ineinander verhaken und wie eine Klette verbunden bleiben. Ähnlich haltbare Ideen hat auch der Gecko: mit seinen rutschfesten Füßen kann sich das Reptil an nahezu jeder Oberfläche festhalten. Er läuft mühelos Wände hoch, hängt kopfüber an Decken und selbst glatte Glasfenster sind für den kleinen Kletterer kein Problem. Möglich machen dies Millionen feinster, verzweigter Härchen an seinen Zehen und Fußsohlen. Zwischen diesen Härchen und der Oberfläche wirken Anziehungskräfte auf molekularer Ebene – Physiker nennen dies die Van-der-Waals-Kraft. Sie wirkt, wenn sich Atome oder Moleküle sehr nahe kommen. Das macht sich der Gecko zu Nutze – übrigens genauso wie Materialforscher. Denn diese entwickelten auf Basis des Geckofußes ein neuartiges Klebeband, das extrem leistungsfähig ist und bereits auf kleiner Fläche mehr als 300 Kilogramm halten kann. Sogar den Selbstreinigungsmechanismus der Mikrohärchen des Geckos kopiert das neuartige Klebeband.
Natürliche Nachhaltigkeit
Auch im Rahmen der Klimadebatte sind effiziente und nachhaltige Lösungen gefragt. Wird weniger Material verbraucht, sinkt auch der Anteil an natürlichen Ressourcen für ein Produkt. Dies ist im Technologiebereich, aber auch im Bau und in der Architektur ein zukunftsweisendes Thema. Für Bioniker und im Bauwesen sind beispielsweise sogenannte Strahlentierchen interessant. Diese winzigen, nur etwa 100 Mikrometer großen Einzeller gehören zum Meeresplankton und haben einzigartige Schalenstrukturen entwickelt. Nach Vorbild ihrer „Mini-Skelette“ lassen sich selbst riesige, stabile Stahlkonstruktionen mit weniger Gewicht bauen. Das reduziert den Materialeinsatz und ist beispielsweise beim Bau von Offshore-Windkraftanlagen nicht nur kostensparend, sondern auch ressourcenschonend und somit nachhaltiger. Forscher haben errechnet, dass sich nach dem Vorbild des Strahlentierchens das Gewicht der Stahlkonstruktionen von Offshore-Windkraftwerken um mehr als ein Drittel reduzieren lässt. Wir dürfen also gespannt sein, welche natürlichen Geheimnisse die Bionik in Zukunft noch entschlüsseln wird.
Weitere Bionik- Beispiele
Mach's wie die Delfine
Unter Wasser herrscht praktisch Funkstille. Mit herkömmlichen Mitteln, wie Funkwellen, lässt sich dort nicht oder nur unzureichend kommunizieren. Delfine hingegen nutzen ihre ganz eigenen Signale und Schallwellen, um miteinander zu „reden“. Dieses Prinzip machten sich auch Forscher zu Eigen und entwickelten ein bionisches Modem. Mit dem elektronischen Gerät lassen sich unter Wasser bei einer Reichweite von zwei Kilometern Informationen übertragen.
Grapefruit mit Aufprallschutz
Die Pomelo, eine Art Grapefruit, dient als Vorbild für einen Schutzhelm. Selbst, wenn die Frucht aus einem bis zu 20 Meter hohen Baum fällt, bleibt sie unversehrt. Möglich macht das sowohl deren harte Hülle, als auch ein spezieller Fruchtschaum zwischen Schale und Fruchtfleisch. Denn der Schaum wird bei Druck nicht dünner, sondern dicker. Zugleich verfestigt er sich. Diesen sogenannten auxetischen Mechanismus wollen auch Hersteller nutzen, in dem sie noch effektivere Schutzhelme entwickeln.
Kein Stau bei Tieren
Schon mal drängelnde Ameisen erlebt? Oder Fische im Stau stehen sehen? Gerade Herden- und Schwarmtiere haben viele ausgeklügelte Systeme, damit es nicht zu Kollisionen oder Chaos kommt. Ameisen nutzen beispielsweise Duftstoffe, um Positionen und Laufwege zu markieren. Fische synchronisieren in Schwärmen permanent ihre Geschwindigkeit und halten Abstand. Verkehrsforscher nutzen diese natürlichen Phänomene, um intelligente Verkehrsleitsysteme zu entwickeln – beispielsweise für die selbstfahrenden Autos der Zukunft.
Lotuseffekt
Diese glatte Oberfläche der Lotuspflanze ist bei genauerer Betrachtung gar nicht so glatt wie gedacht. Auf Nano-Ebene erkennt man Strukturen, die genau das Gegenteil sind: uneben und mit Noppen gespickt. Diese Struktur reduziert die Kontaktfläche mit der Pflanze – die Flüssigkeit hat sozusagen keinen „Boden“, an dem sie sich „festhalten“ kann, und fließt ab.
Interview: „Es entstehen ganz unglaubliche Ideen“
Was können wir von der Natur lernen? Prof. Dr. Tobias Seidl, Westfälisches Institut für Bionik, Westfälische Hochschule, Campus Bocholt, im Interview über die Bionik.
Was war bisher Ihre spannendste Entdeckung?
Wir haben die enorme Haftkraft von Springspinnen messen können. Diese besitzen eine halbe Million kleinster Härchen. So können die Tiere mehr als das 150fache ihres Gewichts an Haftkraft entwickeln – und trotzdem die Beine ohne große Mühe wieder ablösen.
Welche Produkte wurden auf Basis Ihrer Erkenntnisse entwickelt?
Unter anderem eine Feder-Kupplung nach Vorbild des menschlichen Brustkorbs. Damit kann man zum Beispiel einen Motor und eine Bootsschraube miteinander koppeln.
Wie lange dauert es durchschnittlich von der ersten Idee bis zur Alltagstauglichkeit einer Technologie?
Das kommt ganz darauf an wie weit man ausholt. Wenn man eine Geometrie mit bionischen Leichtbauprinzipien verbessert, kommt man in schnellster Zeit zu einem optimierten Produkt. Falls man einen großen Innovationssprung versucht und ein komplett neues Produkt entwickelt, dauert das natürlich etwas länger.
Woher holen Sie Ihre Ideen?
Vieles ist Vorwissen aus Jahren des Lernens und Forschens. Dazu kommen etwas unspektakuläre Dinge, wie das Recherchieren in Datenbanken und das Lesen von Forschungsarbeiten.
Woran forschen Sie zurzeit?
Wir forschen gerade an Kühlsystemen für Elektro-Fahrzeuge. Aber auch an Robotern, die nach dem Vorbild von Wüstenameisen automatisch nach Hause finden.
Betreiben Sie auch Feldforschung?
Aber ja, manchmal darf man auch ins Feld oder selbst Experimente machen. Wir arbeiten zum Beispiel aktiv mit Bienen und Hummeln, um mehr über deren Pilotierung zu lernen. Ziel ist hier, kleine autonome Flugdrohnen besser zu machen.
Welchen Stellenwert hat Bionik in der heutigen Gesellschaft?
Zum einen ist es natürlich eine Wissenschaft und eine Methode neue Technologien oder Produkte zu entwickeln. Aber es zeigt eben auch, wie wertvoll die Natur für uns ist und wie viel wir davon lernen können – es gibt einfach unendlich viele Lösungen zum Erforschen. Am wichtigsten ist mir aber die Ausbildung junger Leute. Bionik lehrt über Disziplingrenzen hinweg zu denken, sich selbständig immer weiter zu bilden und auf Neues und Ungewohntes reagieren zu können. In einer Zeit, in der sich alles ständig ändert, ist das die perfekte Ausbildung. Firmen bekommen innovative Querdenker, die nicht auf Anweisungen warten, sondern selbst loslaufen und sich Gedanken machen.
Welche Unternehmen können von der Bionik profitieren?
Prinzipiell jedes Unternehmen, das in einem technologie-getriebenen Markt unterwegs ist. Wir helfen Produkte fundamental neu zu denken. Es geht also darum zu überlegen, was in Zukunft technisch möglich ist und von der Kundenseite nötig sein wird. Dieser Prozess ist etwas aufwändiger als eine übliche Optimierung, lohnt sich aber trotzdem: Es fallen dabei immer auch Ideen ab, die sich schnell umsetzen lassen.
Was sind zukunftsweisende Bionik-Projekte für den Klimaschutz?
Die Bionik hat natürlich ein super Potential für klimafreundliche Technologien – insbesondere in den Bereichen Windkraft, E-Mobilität und Leichtbau. Denn jedes bewegte Teil verbraucht weniger Energie, wenn es leichter ist. Darüber hinaus untersuchen unsere Studierenden zum Beispiel, wie man Mikroplastik filtern kann. Da entstehen ganz unglaubliche Ideen!
Welche Angebote hat Ihr Institut für Bionik?
Wir haben hier in Bocholt einen von zwei reinen Bionik-Studiengängen in Deutschland. Die Ausbildung ist sehr modern und auf eine sich ändernde Welt ausgerichtet. Die Professoren des Instituts lehren im Bionik-Bachelorstudiengang und sind auch im weiterführenden Master Maschinenbau aktiv dabei. Desweiteren forschen wir an biologischen Systemen, die in der Zukunft mal ein neues Produkt werden könnten. Unser Hauptgebiet ist aber die tägliche Zusammenarbeit mit der Wirtschaft. Das sind dann meistens kleine und mittlere Unternehmen, aber auch mal größere Konzerne. Wir analysieren gemeinsam, wo Bionik eine Innovation bringen könnte und entwickeln dann stufenweise neue Lösungen. Dabei hat man mit Firmen aus den unterschiedlichsten Bereichen zu tun. Das ist sehr spannend und man lernt immer was dazu!
Was können wir von der Natur lernen? Prof. Dr. Tobias Seidl, Westfälisches Institut für Bionik, Westfälische Hochschule, Campus Bocholt, im Interview über die Bionik.
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Tobias Seidl